Karsten Thiele ist selbstständiger Trainer im Forderungsmanagement und berät Unternehmen, die im Credit Management auch einen Erfolgsfaktor sehen.

Er beschäftigt sich seit 25 Jahren mit Credit Management und war fast die ganze Zeit als Leiter Credit Management bei einem Großhändler für Haustechnik tätig. Sein fachliches Know-how und seine über Jahre gemachten Erfahrungen hat er in Zusammenarbeit mit Rudolf H. Müller vom Portal Forderungsmanagement in einem Buch festgehalten, das bereits in der zweiten, aktualisierten Auflage erschienen ist ("Noch Fragen, Karsten?"). 

Wir freuen uns, dass wir Karsten Thiele als Interview-Partner gewinnen konnten und möchten mit ihm vor allem über das wichtige Thema "Kennzahlen" sprechen. Warum sind Kennzahlen überlebenswichtig für Unternehmen und woran hakt es üblicherweise?

 

Welche Kennzahl und warum?

Christopher Stützel:

Lieber Karsten, Kennzahlen geben wichtigen Aufschluss über die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens und zeigen Schwachstellen auf, an denen nachgesteuert werden sollte. Beim Nachsteuern kann es um die internen Prozesse gehen, denen eine Optimierung guttun würde. Oder es geht darum, rechtzeitig über externe Entwicklungen gewarnt zu werden und entsprechende Weichen neu zu stellen. 

Welche Kennzahlen gibt es und welche davon ist deiner Meinung nach die wichtigste, die ein Credit Manager immer im Auge behalten sollte?

Karsten Thiele:

Kennzahlen, lieber Christopher, gibt es viele. Wie schon Peter Drucker sagte: "If you can't measure it, you can't manage it." 

Für mich gibt es 8 wichtige Kennzahlen

  1. Außenstandsdauer (Days Sales Outstanding, DSO)

  2. Forderungsausfall im Verhältnis zum Umsatz

  3. Einzelwertberichtigung (dubiose Forderungen)

  4. Überfälligkeiten im Verhältnis zum Forderungsbestand

  5. Abgesicherte Forderungen im Verhältnis zu den Gesamtforderungen

  6. nicht geklärte Zahlungskürzungen (Differenzen)

  7. Kosten für den Einzug zweifelhafter Forderungen

  8. Effektivität des Forderungseinzugs

 

Christopher Stützel:

Und du beachtest immer alle 8 Kennzahlen?


Karsten Thiele:

Offen gesagt, früher ja. Ich halte auch heute noch jede Kennzahl für sehr wichtig und ich wäre froh, wenn wir Credit Manager kennzahlenorientierter wären. Ich hatte nur irgendwann das Gefühl, ich renne den unterschiedlichen Zielen hinterher, und wenn die miteinander kollidierten, war ich schachmatt.

Dann las ich ein Buch – frage mich bitte nicht, wie es heißt – das lud ein, nur ein Ziel auszuwählen und zu verfolgen. Die Empfehlung war: "Gehe dabei nicht in die Breite, gehe vor allem in die Tiefe." Nach vielen Überlegungen habe ich dann die Außenstandsdauer als meine Kennzahl und die Reduzierung der Außenstandsdauer als mein Ziel genommen.

Christopher Stützel:

Was sprach für die Kennzahl Außenstandsdauer?


Karsten Thiele:

Für die Auswahl der Kennzahl Außenstandsdauer und für das Ziel, diese zu reduzieren, spricht, dass ich als Credit Manager die Kennzahl sehr aktiv steuern kann.

Mein großer Mentor Rudolf Keßler vergleicht Forderungen mit dem Warenbestand. Beide Vermögenspositionen befinden sich in der Bilanz im Umlaufvermögen. Und noch eine Parallele ist wichtig: Forderungen können genauso verderben wie Ware, wenn sie unsachgemäß gelagert oder zu alt werden. 

Kennst du bei Asterix, dem Comic, die Figur Verleihnix? Verleihnix - der Name ist doch Programm, oder? - ist Fischhändler. Wenn du Verleihnix wärst, hättest du lieber frischen, leckeren Fisch oder stinkigen Fisch, um den die Fliegen brummen? Meine Forderungen sollten so sein wie frischer Fisch. Ich wollte immer den "frischesten Fisch" der Branche haben! 

Mit einer niedrigen Außenstandsdauer reduziere ich meinen Forderungsbestand (gut für das Working Capital), meinen Forderungsausfall, meine dubiosen Forderungen und damit die Einzelwertberichtigung sowie meine überfälligen Forderungen. Also erschien mir die Außenstandsdauer als die ideale Kennzahl, und auch als sinnvolle Hilfe für meinen Arbeitgeber, seine Ziele zu erreichen.


Christopher Stützel:

Erschien?


Karsten Thiele:

Na ja, zwei Schwächen hat die Kennzahl für mich:

Ein Problem ist: Nehmen wir zwei Unternehmen an, die jeweils zwei Kunden haben, die beide den gleichen Umsatz tätigen. Unsere beiden Unternehmen vergeben ein Zahlungsziel von 10 Tagen abzgl. 3 % Skonto oder 30 Tage netto. Bei dem einen Unternehmen zahlen beide Kunden pünktlich innerhalb von 30 Tagen, bei dem anderen zahlt der eine Kunde nach 10 Tagen mit Skonto, der andere Kunde nach 46 Tagen. Obwohl das Unternehmen 2 mit 28 Tagen eine um zwei Tage bessere Außenstandsdauer hat, verliert es den Skontobetrag bei dem einen Kunden und der andere Kunde stellt aufgrund der überfälligen Zahlung ein höheres Ausfallrisiko dar. Ein nicht erstrebenswerter Zustand, oder? 

Bei der Außenstandsdauer muss ich also zusätzlich noch die Kennzahl Skontoaufwand und Außenstand über 90 Tage (oder 120 oder Ähnliches) in Euro bzw. Prozent vom Umsatz beachten, damit ich nicht einem Irrtum erliege.

Der zweite Punkt ist die Betrachtung von Barverkäufen. Barverkäufe sind zumindest in einem Großhandel in der Regel sehr verkaufshindernd. Aber sie reduzieren wunderbar meine Außenstandsdauer. Also vergebe ich als Credit Manager allen meinen Kunden nur noch die Zahlungsbedingung "sofort netto Kasse". Um auch eventuell dieses Problem zu lösen, kann man bei der Berechnung der Außenstandsdauer die Barverkaufsumsätze bei dem Umsatz abziehen.

 

Außenstandsdauer / DSO

Christopher Stützel:

Wie lässt sich die Außenstandsdauer deiner Meinung nach am besten steuern? 


Karsten Thiele:

Darf ich ehrlich sein? Früher habe ich gedacht, reduziere die Überfälligkeiten und gebe keine langen Zahlungsziele und es wird klappen.


Christopher Stützel:

Und es hat nicht funktioniert?!

Karsten Thiele:

Doch, natürlich. Nur irgendwann kam ich an meine Grenzen und es ging nicht mehr weiter.


Christopher Stützel:

Und dann?


Karsten Thiele:

Ich habe, was ich immer mache, gründlich nachgedacht und getestet. Ergebnis war, dass ich mir sehr intensiv die Fakturierung und die Gutschriftsbearbeitung angeschaut haben.

Auch wenn die Fakturiergeschwindkeit nicht in die Berechnung der Außenstandsdauer einfließt, liegt in der Fakturierung unwahrscheinlich viel Ertrag. Christopher, du kannst es dir kaum vorstellen! Ziel kann es nur sein, schnell und korrekt zu fakturieren. Und da ist in unserer Wirtschaft nach meiner Erfahrung einiges im Argen. Wünschenswert ist es, wenn 

  • täglich fakturiert wird,

  • mit Kunden tägliche Rechnungsstellung vereinbart wird (mit der Ausnahme, dass ansonsten Skonto- und Nettozahlungsziele reduziert werden) und

  • man selbst erst aufgrund der Lieferantenrechnung fakturiert, dann ist es von Vorteil, mit dem Lieferanten eine unverzügliche Fakturierung zu vereinbaren.

So lässt sich wahnsinnig viel Zeit sparen, aber leider sind gerade in diesem Punkt viele Unternehmen sehr nachlässig. 

Ein weiteres Augenmerk lag in der schnellen Gutschriftsbearbeitung. Kennst du die Aussagen von Kunden, die sagen, sie können keine Rechnungen bezahlen, weil sie so viel zu tun hätten, dass sie selbst noch nicht einmal selbst zum Rechnung schreiben kämen und jetzt kein Geld hätten? 

Eine vergleichbare Aussage hörst du auch von Vertrieblern: Sie müssen so viel verkaufen, dass sie keine Zeit haben, Gutschriften zu bearbeiten, was natürlich für längere Außenstände sorgt. Da war dann viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Auch ist es wichtig, mit Kunden zu sprechen und die Ursachen zu hinterfragen, warum so viele Gutschriften anfallen. Um dann gemeinsam mit dem Kunden an dieser Herausforderung zu arbeiten.


Christopher Stützel:

Wie wird die Außenstandsdauer eigentlich berechnet?


Karsten Thiele:

Die Außenstandsdauer kann man aus meiner Sicht unterschiedlich berechnen. Beispielhaft gebe ich dir zwei Möglichkeiten:

  1. Forderungsbestand bei Periodenende x Anzahl der Perioden-Tage / Umsatz innerhalb der Periode

  2. das gewogene arithmetische Mittel der ausgeglichenen Forderungen der letzten Monate (3, 6, 9 oder/und 12 usw.)

Allein bei den beiden Definitionen kann die Kennzahl erheblich abweichen, denn bei der ersten Definition wird die Kennzahl mit Hilfe der offenen, bei der zweiten Definition mittels bezahlter Forderungen berechnet.

Die Beobachtung der ausgeglichenen Forderungen bringt den Vorteil, dass das eine behäbige Kennzahl ist, die man über einen längeren Zeitraum beobachtet. Also lassen sich Trends gut ableiten. Wenn du die offenen Forderungen beobachtest, siehst du Momentaufnahmen, das aktuell Ablaufende, was aber nicht immer aussagekräftig genug ist. 

Darum ist es von Vorteil, wenn man beide Kennzahlen im Vergleich sieht, weil man zutreffendere Aussagen machen kann. 

 

Steuerung von Kennzahlen

Christopher Stützel:

An einem Punkt möchte ich noch mal nachhaken: Warum haben viele Unternehmen - in deinen Augen - ein Problem, die Außenstandsdauer vernünftig zu steuern?


Karsten Thiele:

Um die Außenstandsdauer vernünftig zu steuern, brauchst du eine leistungsfähige Credit-Management-Software. Das hängt mit dem zusammen, worüber wir gerade gesprochen haben.

Bei Veränderungen deiner Außenstandsdauer, die du dir erst mal nicht erklären kannst, musst du teilweise mühsam die Berechnung der Software nachvollziehen. Hier fehlt dem Anwender, also mir, oft die transparente Darstellung.

Und natürlich erwarte ich von einer guten Software die tägliche Aktualisierung nach einem Zahl- oder Fakturierlauf. Leider ist das meistens ein Problem.

Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der Wissen begrenzt war. Deswegen liebe ich möglichst viele Daten. Ich möchte beispielsweise beide Definitionen der Außenstandsdauer in einer Software abgebildet haben. Ich kann dann besser ableiten, wie sich meine Außenstandsdauer entwickelt.

Ich habe zudem den Eindruck, dass Kennzahlen, wie die Außenstandsdauer oder der Forderungsverlust, im Credit Management nicht durchgehend als relevant erachtet werden. Wenn der Credit Manager nicht zu 100 % hinter seinen Kennzahlen steht, wie verteidigt er dann seine Kennzahlen (= seine Interessen) gegenüber anderen Abteilungen im Unternehmen? 


Christopher Stützel:

Apropos Forderungsverlust, wie sieht es mit der Forderungsausfallquote aus? Muss es für Unternehmen nicht vor allem darum gehen, die im Auge zu behalten?


Karsten Thiele:

Die Forderungsausfallquote ist eine immens wichtige Kennzahl. Sie hat für mich nur zwei relevante Schwierigkeiten:

Erstens: Ich kann sie nur bedingt beeinflussen. Vor zwanzig Jahren hatten wir in Deutschland fast 40.000 Unternehmensinsolvenzen, letztes Jahr keine 14.000. Wenn jetzt meine Ausfallquote sinkt, liegt das an der allgemeinen Insolvenz- und Wirtschaftslage oder ist das mein Verdienst? Was machst du, wenn du jahrelang eine niedrige Quote hattest, und in einem Jahr hast du eine Kriminalinsolvenz (denke mal an Wirecard). Hast du dann schlecht geleistet? 

Zweitens: Wir leben in unserer Welt mit Opportunitätskosten. Dabei gibt es den Fehler erster und den Fehler zweiter Art. Beim Fehler erster Art gibst du einem Kunden eine Linie und der Kunde meldet Insolvenz an. Ein klassischer Forderungsausfall. Der Fehler zweiter Art ist, du gibst dem Kunden wegen einer schlechten Bonität keine Linie und der Kunde geht nicht in Insolvenz. Dann hast du einen Umsatzausfall. Diesen kannst du nur schlecht, eher gar nicht messen, er ist aber da. 

Hätte ich gewusst, dass wir so geringe Insolvenzen haben, hätte ich mehr Kunden eine Linie gegeben. Im Nachhinein und mit dem heutigen Wissen, ein Fehler. 

Du siehst, du musst dich entscheiden – einen der beiden Fehler wirst du begehen. Übertrieben dargestellt, kannst du jedes Unternehmen in den Ruin treiben, indem du deinen Kunden ausschließlich Barverkauf anbietest und du damit null Fehler erster Art, nur einen astronomischen Fehler zweiter Art machst.

Aus diesen beiden Gründen habe ich mich für die Außenstandsdauer und gegen die Forderungsausfallquote als wichtigste Kennzahl entschieden. 

 

Zielkonflikte vermeiden

Christopher Stützel:

Zahlungsziele, Forderungsausfälle, das sind alles Themen, die einen weiteren Bereich in einem Unternehmen direkt oder zumindest indirekt berühren, nämlich den Vertrieb. Welche Kennzahlen spielen hier üblicherweise eine Rolle? Ich will natürlich auf das Thema Zielkonflikte hinaus und darauf, wie man die vermeiden kann.


Karsten Thiele:

Zielkonflikte werden von Menschen gemacht, sie sind nicht gottgegeben. Wenn ich beim Credit Management den Forderungsausfall und beim Vertrieb Umsatz oder Deckungsbeitrag als Zielgröße nehme, entsteht zwingend ein Konflikt. Hier ist meiner Meinung nach die Geschäftsleitung gefragt. Falls die Kennzahl Unternehmenswert verwandt wird, so kann ich diesen als Zielgröße nehmen, wie es das wertorientierte Credit Management vorschlägt. 

Als weiteres Beispiel könnte man nehmen: Die langfristige Umsatzrendite in einem Unternehmen beträgt beispielsweise 4 %. Als gemeinsame Zielgröße nehme ich Umsatz – Forderungsverlust / 4 %. Ein Beispiel: 1.000.000 € Umsatz, Forderungsverlust 10.000 €. Zielgröße 1.000.000 – 10.000 / 4% = 750.000. 10.000 € Forderungsverlust "verschlingt" also 250.000 € Umsatz.

Immer wenn ich den Mehrumsatz bei Forderungsausfall mit Vertrieblern bespreche, wird es im Raum erst mal still. Der Vertrieb überlegt sich, ob er mit jedem, auch dem bonitätsschwachen, Kunden Umsatz machen will, wenn er das 25f-ache des Verlustes an Umsatz machen muss, um den Forderungsausfall zu kompensieren. Gepaart mit dem Wissen und dem Umgang mit dem Fehler 2. Art ist das Credit Management auch bestrebt, den Nenner, also den Umsatz, möglichst groß werden zu lassen.

Du siehst also, wie eng die beiden Bereiche zusammenhängen und von einer funktionierenden Abstimmung profitieren, statt über Gräben Konflikte auszufechten

Und wenn du mir noch eine Bemerkung erlaubst: Falls der Vertrieb und das Credit Management auch noch das 25-fache an Umsatz für nicht erledigte Gutschriften machen sollen, werden auch die Gutschriften schneller bearbeitet.

Christopher Stützel:

Wo siehst du die Herausforderungen in der Zukunft für Credit Manager, denen mithilfe eines optimierten Kennzahlen-Monitorings begegnet werden kann?


Karsten Thiele:

Oh, da fragst du den Falschen. Ich gehe davon aus, dass die Zukunft genau nicht so eintritt, wie ich sie mir in meiner Vorstellung prognostiziere.

Vielleicht darf ich eher zwei Wünsche äußern:

Ich wünsche mir, dass Credit Manager sich mehr mit ihren Zielen und ihren Werten beschäftigen und daraus klare Handlungsempfehlungen ableiten. Auch wenn ich glaube, dass es auch ein gesellschaftliches Problem ist, so werden Ziele und Werte nur als Deckmantel genommen und nicht gelebt. 

Und ich wünsche mir, dass sich ein Trend fortsetzt, der mit Corona begonnen hat bzw. durch Corona befeuert wurde: Credit Manager und ihre Software müssen schneller auf Veränderungen reagieren. Wir leben in einer schnelllebigen und sich permanent veränderten (VUKA-) Welt. Ich befürchte, wenn wir in einer Zeit von Corona, Inflation, gestörten Lieferketten, Personalnot, Krieg usw. nicht flexibler agieren, werden unsere Herausforderungen zukünftig noch größer.

Der Staat kann nicht immer wieder auf Dauer das Insolvenzrecht außer Kraft setzen und mit dem Helikopter das Geld auf Unternehmen und Verbraucher regnen lassen.


Christopher Stützel:

Das sind viele, sehr wichtige Denkanstöße! Danke dafür, Karsten, und für das ganze spannende Gespräch!